Offene Systeme – Energie und Information
Michael Seibel • Woran halten sich Propheten? - Und woran sollten sie sich besser halten? (Last Update: 02.04.2019)
Ein Physiker, der es gewohnt ist, offene Systeme zu beschreiben, Systeme, die im Austausch mit irgendeiner Art von Umwelt stehen, könnte auf die Idee kommen, solche Technologielisten wie Kohle, Stahl, Transport, Weberei, Nachrichtentechnik etc. auf zwei Zentralthemen zusammenzukürzen, nämlich auf die Begriffe Energie und Information. Und das mit einigem Recht. Alle bisherigen industriellen Revolutionen haben darin bestanden, natürliche Energieressourcen, die zuvor nicht verfügbar waren, in großem Maßstab zu erschließen und zu verteilen. Die Umverteilung von Ressourcen von dort, wo sie geschöpft werden, dorthin, wo sie benötigt werden, ist im Kern ein Informationsproblem und das nicht erst in der Moderne. Selbst die neolithische Revolution, der Beginn des Ackerbaus und die beginnende Sesshaftigkeit vor ca. 10.000 Jahren, bestand darin, Energieressourcen zu erschließen und ein neues Informationsmedium zu erfinden. Der Energielieferant, um den es damals ging, war die Nahrung. Die neue Art, diese Ressource zu erschließen war der Ackerbau und das neue Informationsmedium war die Schrift, die nicht primär dazu gebraucht wurde, um Gedichte zu schreiben, sondern um den neuen Reichtum gesellschaftlich zu verteilen, um festzuhalten, wem was gehört und wer wem was schuldet. Menschheitsgeschichtlich stehen die Themen Energie und Information von Anfang an im Zentrum aller technischen Revolutionen. Energie in Form von Muskelkraft, Nahrung, Land- und Forstwirtschaft, bedingt durch Klimate und Bodenfruchtbarkeit, später zusätzlich in Form von Bodenschätzen, Kohle, Öl, Atom und erneuerbaren Energien.
Information hatte ebenfalls ganz unterschiedliche Erscheinungsformen. Für uns ist aber ein sozialer Informationsbegriff interessant. Wie hat sich entwickelt, was nötig ist, damit Menschen in sozialen Verbänden ihre Tätigkeiten untereinander abstimmen können? Wir denken dabei an all die Generationen von Informationssystemen, von der Sprache über die Schrift, die Mathematisierung und heute die Digitalisierung, mit der die Menschheit auf sich selbst einwirkt, um zusätzliche Energien überhaupt erschließen und verteilen, sprich nutzen zu können. Um zum Ackerbau übergehen zu können, muss es z. B. einigermaßen stabile Informationen darüber geben, wer welches Land bebaut. Kein steinzeitlicher Nomade braucht von sich aus die Mathematik, aber für die gesamte Kulturgeschichte danach ist es essentiell, dass alle Dinge Maß und Werte haben, die man miteinander vergleichen und ineinander umrechnen kann.
Es gibt auch andere Begriffe von Information, z.B. den Informationsbegriff der statistischen Mechanik als einer Disziplin der modernen Physik oder den Informationsbegriff der Informatik. Wir kommen gelegentlich auf ihre Verwandtschaft.
Verdeutlichen wir uns aber zunächst folgende grundlegende Differenz: Im biologischen Organismus ist der genetische Bauplan selbst Teil des Organismus. In sozialen Systemen dagegen ist der Bauplan des jeweiligen sozialen Ordnung zu einem Teil biologisch kodiert, denn die Menschen sind von Anfang an soziale Wesen, und insofern ist das Soziale genetisch bedingt und ohne solche Mitgift wäre jede weitere Ausdifferenzierung historischer sozialer Ordnung, die natürlich alles andere als genetisch festgelegt ist, schlicht unmöglich. Zugleich sind soziale Ordnungen technisch-symbolisch kodiert, ob durch Sprache und Schrift oder die Ordnung von Bauwerken, Denkmälern und der Kirchen in den Dörfern. Bis heute ist nur zum Teil verstanden, wie beides ineinander spielt. Noch lassen sich keine gentechnisch 'verbesserten' Untertanen kreieren. Die relativ strenge Trennung zwischen Gencode und Sozialcode, natürlicher Mitgift und technischer Mitgift besteht nach wie vor. Bisher plant niemand auf der Welt die gentechnische Erzeugung folgsamer Untertanen, wenn man von den Millionen bürgerlichen Eltern absieht, die selbst medizinisch fast alles tun würden, um hochbegabte Kinder zu bekommen. Die Aufhebung der Trennung von technischem und biologischem Code wird dennoch, wenn auch bisher nicht wirklich erfolgreich, seit Beginn der Moderne angegangen und zwar von Seiten des Menschen und seiner technischen Codes und um so freimütiger, je weiter entfernt das Ziel war. Jedenfalls ist der genetische Code etwas, das sich heute Buchstabe für Buchstabe für erschreckend wenig Geld dechiffrieren lässt, auch wenn der Text, der sich daraus ergibt, noch unverständlich ist.
Wir alle wissen so ungefähr, was eine Ordnung ist. Wir sprechen von staatlicher Ordnung oder von ordentlichen Leuten, wir wissen, wie sehr es in den Firmen, in denen wir arbeiten, auf geordnete Abläufe ankommt und wir achten die Mathematik als Strukturwissenschaft. Sobald man – wie wir alle das aus gutem Grund tun – unterstellt, dass es systematische Ordnungen überhaupt gibt, unterstellen wir automatisch, dass es in irgendeiner Weise Code geben muss, der die Regeln der hypothetischen Ordnungen beschreibt und dass es darauf ankommt, diesen Code zu verstehen. Heute könnte ganz alltäglich niemand leben, ohne an die Existenz bestimmter Ordnungen zu glauben, wie auch daran, dass er sich in einem gewissen Maß darin auskennt. Erst innerhalb bestehender Ordnungen werden Daten zu Information. Wenn nun biologische oder soziale Codes von offensichtlich besonders komplexen Ordnungen nicht nur entziffert, sondern darüber hinaus verstanden werden sollen, geht es darum, in vorliegenden Daten Muster zu erkennen. Von dieser Seite her wird die Entwicklung hin zu Plattformökonomien, die ökonomisch bereits problematisch genug ist, zusätzlich brisant. Google sagt heute über sich selbst:
"... (es ist A.v.m.) unsere Kernaufgabe, die Informationen der Welt zu organisieren."
Vor nicht all zu langer Zeit hätte man sich über derlei Prätention kaputt gelacht. Erstens hätte man nicht geglaubt, wie das möglich sein soll. Zweitens hätte man nicht gewusst, wozu das gut sein soll. Heute lacht darüber niemand mehr. Wir haben gelernt, dass Ordnungen nicht daraus bestehen, dass jemand zuerst Gesetze aufstellt, nach denen sich dann alle richten. Kein Gesetz ohne Ausnahme. Gesetze sind, sofern überhaupt von Gesetzen zu reden ist, statistische Gebilde. Statistisch gesehen bestehen Gesetze aus normalverteilten Ausnahmen. Das, was wir Intelligenz nennen, sind ganz oft Versuche, mit Hilfe unseres Vorwissens Muster zu erkennen. Es sind intelligente Strategien um Unsicherheit zu verringern.
Woran halten sich Propheten? - Und woran sollten sie sich besser halten?
Aber keine Technologie verändert die Welt von sich aus. Technologien können zu früh kommen und liegenbleiben, weil noch niemand etwas mit ihnen anfangen kann. Im Dezember 1968 stellten Douglas C. Engelbart und William English vom Stanford Research Institute die erste Computermaus vor. Mangels sinnvoller Einsatzmöglichkeiten interessierte dies jedoch kaum jemanden.1 Ken Olson, Präsident und Gründer von DEC sagte noch 1977, also 9 Jahre nach der Vorstellung der Computermaus: „Es gibt keinen Grund, warum jemand einen Computer zu Hause haben wollte.“ Es gab noch keine grafischen Benutzeroberflächen. Die kamen dann sehr schnell 1984 mit dem ersten Apple Macintosh. Heute, 40 Jahre später, sehen die meisten Menschen in den Industrieländern kaum noch eine Chance, ihre persönlichen Informations-, Kommunikations- und Konsumwünsche ohne einen Computer in der Hosentasche umzusetzen.
Es sind nun einmal die Menschen, die mit Technologien die Welt und sich selbst verändern, Menschen, die plötzlich neue Mittel haben, um ihre aktuellen - was nichts anderes heißt als ihre alten, durchaus hergebrachten - Probleme zu lösen und sich damit ganz unerwartete neue einzuhandeln. Und es scheint regelmäßig enorm schwer zu sein, einen Weg zurück zu finden, wenn Technologien, nachdem sie etabliert wurden, erst einmal ein Janusgesicht zeigen.
Von den beiden thematischen Blöcken Energie und Information sind es heute die Informationstechnologien, kurz die Infotechs, die erneut dazu führen könnten, dass die Menschen selbst sich möglicherweise entscheidend verändern werden, je nach dem, wie wir sie nutzen und weiterentwickeln. Das ist an sich nichts Überraschendes. Man braucht sich nur daran zu erinnern, was das Leben der Generation unserer Eltern, die vielleicht in den 20er oder 30er Jahren des 20. Jahrhunderts geboren wurden und von denen viele heute noch leben, an technischen Veränderungen mit sich gebracht hat, von denen unsere Großeltern nicht einmal geträumt hätten. Man könnte also versucht sein, wild drauflos zu spekulieren, was uns bevorstehen könnte z.B. durch eine Technik wie crispr cas9, die es im Prinzip erlaubt, Gencode zu editieren als wäre es Zeitungstext. Wird es möglich sein, bestimmte Erbkrankheiten zu heilen oder das Leben zu verlängern? Wie lang werden Menschen dann leben und vor allem, wie gesund werden sie im Alter sein? Die ewige Jugend wollten schon Wagners Götter genießen. Im Rheingold kann Freia die Äpfel aus dem Garten der Jugend pflücken, denen die Götter ihre Unsterblichkeit verdanken. Werden dann reiche Leute, die sich die entsprechenden Innovationen leisten können, auch real zu der Art von Göttern, die mancher heute schon gern wäre?
Californische Transhumanisten fragen heute allen Ernstes, ob durch crispr cas9 der Menschheitstraum ewiger Jugend machbar wird oder eines rassisch perfektionierten Übermenschen. Und wieder einmal wird diese Frage so dargestellt, als stelle diese Fragen gleichsam die Evolution persönlich, als hieße Mensch zu sein ganz automatisch gebunden sein an bestimmte unüberschreitbare Geschichten wie eben die vom Übermenschen und von der ewigen Jugend. Vielleicht reflektiert man besser die Geschichten! Wenn sie damit ein nicht gerade kleines Publikum finden, liegt das sicher auch daran, dass Phantasien immer dann am spannendsten sind, wenn sie an möglichst archaische Vorstellungen anknüpfen, am besten, wie Freud uns beigebracht hat, an Wünsche und Ängste aus der Kindheit. Man kann sich das leicht an der Entwicklung des Individualverkehrs seit der Erfindung des Autos klarmachen. Jemand, der mit dem Autofahren Phantasien persönlicher Stärke verbindet, fühlt sich im 400 PS SUV gleich viel freier als im Kleinwagen, der vor ihm im selben Stau steht.
Und sind nicht wirklich andere Menschen aus ihnen geworden, aus der bäuerlichen Bevölkerung im Ostpreußen um 1930, als fast jeder noch weitgehend Selbstversorger war, Tauschhandel mit der Nachbarschaft betrieb und kaum über Bargeld verfügte? Diese Menschen, denen Hitler irgendwann ab 1933 die ersten Volksempfänger ins Wohnzimmer stellte, sind das nicht völlig andere Menschen als die Weltreisenden von heute, die Freunde auf der ganzen Welt haben und in ihrem Leben Deutschland als Kaiserreich, als Weimarer Republik, als Nazi-Diktatur und als Nachkriegsdemokratie erlebt haben? Genetisch sind es noch genau die selben Menschen. Was die Evolution in Millionen Jahren ins Genom notiert hat, kann sich innerhalb einer Generation natürlich nicht ändern. Aber denken und handeln sie nicht völlig anders? Es sind zum Teil sogar noch einunddieselben Individuen, die ihre Kindheit auf dem preußischen Bauernhof erlebt haben und die an ihrem 80. Geburtstag an Bord eines Kreuzfahrtschiffs mit ihren Enkeln in Australien skypen.
Wir wissen so wenig wie unsere Eltern, was in den nächsten 80 Jahren auf uns zukommt.
Auf welche Weise sollten wir darüber nachdenken, was möglicherweise in Folge technischer Entwicklungen, die heute gerade angestoßen werden, auf uns zukommt? Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns Fragen nach Technikfolgenabschätzung gegenüber sehen. Die atomare Bewaffnung nach 1945 ist bis heute das schlagende Beispiel für eine nicht zu Ende gedachte Technikfolgenabschätzung. Die objektive Möglichkeit des Untergangs der Menschheit wurde in die Ideologie vom Gleichgewicht des Schreckens und mithin in die ultimative Friedensgarantie schlechthin umgedichtet. Aus der Katastrophe wird das Gewünschte. Zugleich wird aber durchaus auf der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen bestanden. Beides passt schlecht zusammen. Wäre Atomwaffenbesitz gleichbedeutend mit einem ganz und gar begrüßenswerten Gleichgewicht des Schreckens, dann müssten eigentlich alle Staaten über eine eigene atomare Bewaffnung verfügen. Gleichgewicht des Schreckens ist eine euphemistische Bezeichnung für das Erschrecken vor Hegemonialmächten. Was können wir tun, um nicht bei der anstehenden Bewertung von neuen Technologien vergleichbare Denkfehler zu wiederholen?
Peter Thiel, mit Max Levchin und Elon Musk Gründer des Online-Bezahldienstes Paypal, macht auf eine Fehleinschätzung anderer Art aufmerksam: „Wir haben eine reichere Gesellschaft geerbt, als es sich eine andere Generation vorstellen konnte. Jede Generation, mit Ausnahme unserer Eltern und Großeltern, das heißt: Ende der 1960er Jahre erwarteten sie, dass sich dieser Fortschritt fortsetzt. Sie freuten sich auf eine viertägige Arbeitswoche, Energie zu Minipreisen und Urlaub auf dem Mond. Aber es ist nicht passiert. Die Smartphones, die uns von unserer Umgebung ablenken, lenken uns auch davon ab, dass unsere Umgebung merkwürdig alt ist: Nur Computer und Kommunikation haben sich seit der Jahrhundertwende dramatisch verbessert.“2
Thiel hat mit seiner Bemerkung durchaus recht. Wir machen, so Thiel, viele „horizontale Fortschritte“, Fortschritte, die darin bestehen, uns lediglich selbst zu kopieren, etwas, das sich bereits an einer Stelle bewährt hat, anderswo nochmal zu machen. „Auf der Makroebene ist das treffende Wort für horizontalen Fortschritt die Globalisierung - Dinge mitnehmen. China ist das Paradigma der Globalisierung. Sein 20-Jahres-Plan sieht vor, wie die Vereinigten Staaten von heute zu sein.“
Was wesentlich seltener ist, das sind, so Thiel, „vertikale“ technologische Fortschritte, bei denen nicht kopiert, sondern etwas neues entwickelt wird.
Beim Versuch der Vorhersage neigen wir dazu, beides, horizontalen und vertikalen Fortschritt zu verwechseln. Horizontaler Fortschritt ist sehr viel leichter vorhersagbar.
Anmerkungen:
1 Die Computermaus ging übrigens auf einen interessanten Vorläufer aus der Militärtechnik zurück. Die Briten verfügten im Ende der 40er Jahre über ein System, um tief fliegende Flugzeuge auf X- und Y-Koordinaten mittels Joystick als Eingabegerät anzuzeigen. Der britische Ingenieur Ralph Benjamin versuchte, diese Eingabemethode mit einer Erfindung zu verbessern, die er als Rollenkugel bezeichnete, die aus einem Metallgehäuse bestand, das eine Metallkugel mit zwei Gummirädern enthielt. Die Briten hielten das Gerät bis 1947 für ein militärisches Geheimnis.
1952 entwickelten die kanadischen Ingenieure Tom Cranston, Fred Longstaff und Kenyon Taylor daraus einen Trackball für das Digital Automated Tracking and Resolving (DATAR) -System der Royal Canadian Navy, einem computergestütztes Schlachtfeld-Informationssystem, das es dem Benutzer ermöglichte, den Ort der Benutzereingaben auf dem Bildschirm zu steuern.
Der Rollball unterschied sich von der Maus dadurch, dass der Benutzer die eingebaute Kugel mit den Fingern bewegen konnte, das das Gerät selbst jedoch fest verbaut war, anstatt dass es wie bei der heutigen Maus frei im Raum bewegt werden konnte.
Man lernt daraus: Nicht alles, was für das Militär hochinteressant ist, ist deshalb auch gleich für jedermann interessant.
2 Peter Thiel, Zero to one, New York 2014
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